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Nebenwirkung der Pille: Südbadenerin verklagt Bayer
Eine Südbadenerin verklagt den Pharmakonzern Bayer auf Schmerzensgeld – weil sie nach Einnahme einer Antibabypille eine lebensgefährliche Thrombose erlitt.
Auf dem Tisch wirkt der kleine, nur acht Zentimeter lange Blister wie der Ausschnitt eines großen Planes. Auf der Folie, hinter der die eingeschweißten Pillen verpackt sind, stehen die sieben Wochentage. Eine Linie zieht sich durch, verbindet vier Wochen wie 28 Stationen eines Weges: der Plan für einen Monat. Doch an Tag drei bricht die Linie ab, der Plan ist zerstört. Die Pille für diesen Tag ist nicht durch die Alufolie gedrückt.
Dramatische Wende
Es war ausweislich des Blisters ein Samstag. Felicitas Rohrers Plan nahm
an diesem dritten Tag des neuen Zyklus eine dramatische Wende. Sie
erinnert sich noch daran, wie sie im Schockraum der Universitätsklinik
lag und es höchst merkwürdig fand, dass ihr ein fremder Mann den BH mit
einer Schere aufschnitt und vom Körper riss. "Komisch, dass ich dieses
Bild noch vor Augen habe und auch das Gefühl, das ich dabei hatte", sagt
sie sieben Jahre später. "Wer ist das? Was macht der?"
Dass der fremde Mann ihr anschließend den Brustkorb öffnete, hat sie
aber nicht mehr mitbekommen. Aber sie weiß, dass er ihr mit seinem
entschlossenen Handeln das Leben gerettet hat. Sie sagt, sie werde ihm
das nie vergessen. Dann muss sie eine Pause einlegen in der Schilderung
dessen, was am Samstag, 11. Juni 2009, passiert ist. Später wird sie
sagen, sie könne seit diesem Tag den Tod spüren, wenn er neben sie
tritt.
Was vor ihr liegt, erfordert Nüchternheit und Disziplin
Aber jetzt erst einmal eine kurze Gesprächspause. Sie will sich sammeln.
Denn was vor ihr liegt, erfordert Nüchternheit und Disziplin. Denn
Felicitas Rohrer hat sich mit einem mächtigen Gegner angelegt, dem jede
Sentimentalität fehlt. Außerdem hat der Chemiekonzern Bayer gute
Anwälte. Also konzentriert sich die junge Frau mit den wilden blonden
Locken, die von einem glitzernden Haarreif gebändigt werden. Sie
schluckt kurz, zieht einen Zeigefinger unter dem Auge durch und gibt
sich einen Ruck. Ihr Oberkörper richtet sich auf in Kampfstellung. Es
geht um Bayer, 119.000 Mitarbeiter, 42,2 Milliarden Euro Jahresumsatz,
8,8 Milliarden Euro Gewinn. "Bayer handelt als Corporate Citizen sozial
und ethisch verantwortlich", preist sich das Unternehmen auf seiner
Webseite.
Genau daran zweifelt Felicitas Rohrer. Sie hat den Konzern aus
Leverkusen, der alle Vorwürfe zurückweist, auf Schmerzensgeld und
Schadenersatz verklagt. Am 17. Dezember beginnt der Prozess vor dem
Landgericht Waldshut. Es geht um die Frage, ob das Unternehmen die
Risiken verschwiegen hat, die mit der Einnahme der Anti-Baby-Pille der
vierten Generation – Handelsname Yasminelle, Yasmine, Yaz – verbunden
sind. Es geht um Produkte mit dem Wirkstoff Drospirenon, der auch in
anderen Pillen enthalten ist.
Der Prozess führt unweigerlich zurück zu jenem 11. Juni vor sechs
Jahren. Felicitas Rohrer, die damals noch in Bad Säckingen wohnte, hatte
sich für einen Sprachtest angemeldet an der Uni in Freiburg. Es ist
Samstag, kurz vor 9 Uhr, kurz vor Testbeginn. Sie ist zum Glück nicht
allein, ihr Freund begleitet sie. Er nimmt sie bei der Hand, als ihr
schwindelig wird. Er fängt sie auf, als sie auf dem Weg zur Toilette
zusammensackt. Er setzt den Notruf ab.
Dann geht es ganz schnell: Notarzt, Rettungswagen, Ohnmacht, Uniklinik,
umringt von einer Schar von Ärzten, Ohnmacht, Schockraum,
Herzstillstand. In diesem Moment ist Felicitas Rohrer klinisch tot. Dass
sie am nächsten Tag auf der Intensivstation wieder die Augen öffnen
kann, hat sie dem Einsatz der Ärzte, der Technik und sehr viel Glück zu
verdanken – und vor allem, wie sie den Zusammenbruch überstanden hat.
Denn wegen des vorübergehenden Herz- und Atemstillstands, der zu einer
Unterversorgung des Gehirns führte, befürchteten die Ärzte eine
Schädigung des Hirns.
Hausarzt wurde nicht hellhörig
Felicitas Rohrer ist fast ein wenig außer Atem gekommen, sie hält inne,
gönnt sich wieder einen Moment Ruhe. Vor ihr liegt der angebrochene
Pillenstreifen, dort bleiben die Augen hängen, an dem Schminkkästchen
mit Spiegel, das Yasminelle-Kundinnen als Dreingabe bekamen.
Der Freude, überlebt zu haben, folgt die Suche nach den Ursachen.
Felicitas Rohrer hat, wie sie erzählt, sehr gesund gelebt, Sport
getrieben, nicht geraucht. Sie hat sich im Nachhinein geärgert, dass ihr
Hausarzt nicht hellhörig wurde, als sie ihm von ihrer Kurzatmigkeit
berichtete, vom Druckschmerz im Brustraum und Ziehen im Bein, von den
Schwierigkeiten beim Luftholen. Sie wurde auf eine Rippenfellentzündung
behandelt, nahm deswegen Antibiotika.
Dabei hatte sich Wasser in ihrem Bauch und in der Lunge eingelagert, die
Venen des linken Beines waren verstopft. Felicitas Rohrer wusste, dass
die Einnahme der Pille mit einem gewissen Thromboserisiko verbunden ist.
Was sie nicht wusste: Das Risiko ihrer Pille war doppelt so hoch wie
bei Pillen der älteren Generation. Felicitas Rohrer ging vom Gegenteil
aus, ihre Gleichung lautete: Vierte Generation ist gleich niedriger
dosiert und besser verträglich.
Mindestens 478 junge Frauen betroffen
Felicitas Rohrer kann charmant und gewinnend lächeln, sie kann
freundlich strahlen und hoffnungsvoll blicken. Und man kann darüber fast
ihre fast gnadenlose Hartnäckigkeit und Schonungslosigkeit sich selbst
gegenüber übersehen. Die wird sichtbar, als sie einem Anfangsverdacht
nachgeht. Der erste Schritt in diese Richtung folgte der Erkenntnis,
dass sie nicht alleine ist. Sie hat eine Webseite eingerichtet,
inzwischen kann sie die Fälle von 478 jungen Frauen dokumentieren, die
von Nebenwirkungen der Pille betroffen sind. Junge, bis dahin gesunde
Frauen mit Thrombosen, mit Lungenembolien, mit Schlaganfällen. Etliche
konnten sich nicht mehr selbst melden: 16, weil sie tot sind, andere,
wie Celine, eine junge Frau aus der Schweiz, weil sie seit einer
beidseitigen Lungenembolie spastisch gelähmt und schwerstbehindert ist.
Celine sitzt im Rollstuhl. 16 Jahre alt war sie, als ihr dies passierte.
Sollte ein Bayer-Anwalt in dem Prozess weiter an der Theorie vom
Einzelfall festhalten, Felicitas Rohrer wird ihm jeden einzelnen Namen
vorlesen. So wie sie es seit Jahren auf der Hauptversammlung der
Bayer-Aktionäre tut. Sie hat dort über die Vereinigung der kritischen
Aktionäre ein Rederecht. Sie kommt immer erst spät zu Wort, zu einem
Zeitpunkt, wenn die Aktionäre nur noch auf das Büfett warten. Die
erfahren dann nebenbei, dass Bayer mit Yasminelle mehr umsetzt als mit
dem Dauerläufer Aspirin, im Geschäftsjahr 2015 mehr als 800 Millionen
Euro.
"Häufige" und "gelegentliche" Nebenwirkungen
Schwieriger wird ein zweiter Nachweis. Felicitas Rohrer greift in das
silberne Schminkkästchen, zieht zwei gefaltete Heftchen hervor: die
Produktbeschreibung und den Beipackzettel, 48 Seiten lang. In dieser Box
bewahrte sie die Pille auf, der Beipackzettel stammt aus dem Jahr 2008.
Das Erscheinungsdatum ist wichtig – denn die Neuauflage wurde
überarbeitet. Unter "häufige Nebenwirkungen" stehen Hinweise auf
Stimmungsschwankungen, Akne und Kopfschmerzen, als "gelegentliche
Nebenwirkungen" werden zwischen Depressionen, Hautkribbeln,
Fieberbläschen, Schlafstörungen und Schwellungen der Schleimhäute auch
Thrombosen und Lungenembolien genannt. Und weiter unten wird als
Risikofaktor erwähnt, dass Thrombosen "bei zunehmenden Alter" auftreten
können, und "wenn Sie übergewichtig sind". Außerdem erhöhten hoher
Blutdruck, hohe Blutfettwerte und Diabetes das Risiko.
Felicitas Rohrer hat den Text wieder und wieder gelesen in den
vergangenen Jahren. Sie schüttelt den Kopf. "Nichts davon traf auf mich
zu." Ihre Stimme klingt nicht mehr sanft und freundlich, sondern empört,
fassungslos und angriffslustig. Zu diesem Zeitpunkt, das weiß sie
heute, gab es bereits eine Warnung des Bundesinstituts für Arzneimittel.
"Wenn ich gewusst hätte, dass das Thromboserisiko doppelt so hoch ist
wie bei herkömmlichen Pillen, ich hätte die niemals genommen." In der
Tat ist schwer nachvollziehbar, weshalb eine Pille auf den Markt kommt,
deren gewünschter Nutzen, die Verhütung, nicht größer ist als bei
eingeführten Produkten. Der einzige Fortschritt sollte sein, dass sie
nebenbei das Erscheinungsbild von Haut und Haaren verbessert und es
zudem zu keiner Gewichtszunahme kommt. Das Produkt war zeitweise als
Aknemittel auf dem Markt. Das Begleitheft verspricht der "lieben
Yasminelle-Verwenderin" einen "Smile-Effekt – du fühlst dich wohl in
deiner Haut", einen "Feel-Good-Effekt – verbessert dein körperliches und
seelisches Befinden" und einen "Figur-Bonus – hilft das Gewicht stabil
zu halten". Fazit: "Mit der Yasminelle kannst du das Leben und die Liebe
so richtig genießen." Das zielt auf die junge Kundin, auf die
Erstanwenderin. Genau die aber sollte diese Pille eher meiden.
Bayer hat Milliarden bezahlt – in den USA
Was versprochen wurde, passte in den Lebensplan von Felicitas Rohrer.
Der lässt sich in etwa so unterteilen: Kurzfristig wollte sie nicht
schwanger werden, mittelfristig ihre berufliche Situation klären und
langfristig eine Familie gründen. Wegen der beruflichen Perspektive für
die nächsten Jahre war sie an jenem 11. Juni in Freiburg. Sie hatte ihr
Studium der Tiermedizin gerade abgeschlossen, sie wollte noch für zwei
Jahre einen Journalismus-Studiengang anschließen, dann beruflich Fuß
fassen. Für später war fest die Gründung einer Familie vorgesehen. Das
war der Plan.
Sie lenkt die Aufmerksamkeit ihres Besuchers mit ihrem Blick auf den
Holzboden neben der Couch, wo ein blauer Gummianzug liegt mit
Schläuchen, er gleicht einer Mischung aus Taucheranzug und Anglermontur.
"Ein Lymphomat", sagt sie kühl. Keine junge Frau sieht gerne so ein
Teil in ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnung liegen. Aber es ist
eine Platzfrage. Einmal pro Tag muss sie in die Hosenbeine steigen, sich
hinlegen und durchwalken lassen. Der Körper braucht Unterstützung von
außen, weil die Venen nicht mehr elastisch sind und sich in den Lymphen
das Wasser staut. Dies ist auch ein Grund, weshalb sie keine feste
Ganztagsstelle annehmen kann. Und als Tierärztin wird sie wegen der
körperlichen Belastung wohl nie arbeiten können.
"Die Sorglosigkeit ist weg"
Auch in den USA gab es Todesfälle und schwere Erkrankungen, Bayer hat
dort inzwischen 1,9 Milliarden Dollar bezahlt. Mehr als 10.000 Frauen
hatten sich dort den Sammelklagen angeschlossen. Stets erfolgte die
außergerichtliche Einigung mit der Klägerin vor dem Urteil. So konnte
Bayer immer verhindern, dass ein Gericht verbindlich festhalten konnte,
dass der Wirkstoff Drospirenon verantwortlich war für die schweren
Zwischenfälle. Obwohl es zahlreiche frühe Warnungen und Studien gab,
obwohl die heutigen Beipackzettel das Thromboserisiko korrekt angeben –
Bayer wehrt sich dagegen, etwas gewusst und verschwiegen zu haben.
Felicitas Rohrers Entschädigungsforderung wurde zurückgewiesen. Jetzt
will sie es wissen. Auch weil "ich endlich einen Haken unter die
Geschichte machen will". Sofern das überhaupt möglich ist.
Die Kinderfrage stellt sich derzeit nicht, zum einen ist die Beziehung
über all den Turbulenzen zerbrochen, aber auch, weil sie blutverdünnende
Mittel einnehmen muss. Das verträgt sich nicht mit einer
Schwangerschaft. Sie weiß, was das bedeuten kann. "Die Sorglosigkeit ist
weg." Der Satz steht lange im Raum, er hat nichts Kämpferisches an
sich. Sie lebe heute stärker in den Momenten des Tages, langfristige
Pläne sind unverbindlicher. Die Lampe im Flur ihrer neuen Wohnung in
Willstätt hat auch nach einem Jahr noch keinen Schirm.
Hintergrund: Die Pille und ihre Nebenwirkungen
Die Pille kann als Nebenwirkung Blutgerinnsel auslösen. Dabei ist das Risiko laut Europäischer Arzneimittelagentur bei Pillen der zweiten Generation doppelt so hoch wie bei gleichaltrigen Frauen, die keine Pille nehmen. Bei der Pille der dritten Generation ist das Risiko noch einmal doppelt so hoch wie bei der Pille der zweiten Generation. Rund sechs Millionen Frauen in Deutschland nehmen täglich die Pille.